Wenn man eine Weile in einem anderen Land ist, dann merkt man ja, dass die Art und Weise des Denkens von Ort zu Ort unterschiedlich ist. Was mich nicht besonders verwundert hat, ist z.B., dass in Lettland alles langsamer läuft, was ich gut finde, chaotischer, was ich eigentlich auch gut finde und zeitverschwenderischer, was mir manchmal echt die Nerven raubt.
Aber das hat mich total überrascht:
Da das Land so klein ist, scheint hier jeder jeden zu kennen, und das meine ich ernst. Zum Beispiel haben wir vor kurzem mit der Tochter der Schulleiter auf YouTube ein Video eines Volksfestes geguckt. Und sie sagt dir die ganze Zeit: „Die geht mit mir in die Musikschule.“ „Den Musiker kennen alle in Lettland. Alle mögen ihn.“ (Die Musikschulkameradin spielt gerade mit ihm zusammen.) Dann sagen Paula und ich, dass er wohl sehr berühmt ist, aber sie sagt nur: „Nein, er ist nicht berühmt. Er ist ganz normal.“ Ich denke dann nur: Aber jeder in Lettland kennt ihn.
Künstler sind hier wie Freunde, deren Gaben an ihnen Besonders geschätzt werden, nicht Gaben, deren Sympathie ihnen zu mehr Ruhm verhilft.
Ein anderes Beispiel: Unser Gastgeber in Riga, der, der Deutscher ist, schlug uns vor, uns die Handynummer des lettischen Teilnehmers des „Eurovision Song Contest“ zu geben. Der ist nämlich vor ein paar Jahren auch als deutscher Freiwilliger nach Lettland gekommen. Wir haben jetzt nicht seine Nummer –das ist dann irgendwie in Vergessenheit geraten, was ich auch ganz gut finde (ich ruf doch keinen Fremden auf seinem privaten Handy an, ob er nun im ganzen Land bekannt ist, oder nicht.)– aber ich erzählte diese Geschichte auch der Tochter der Schulleiter. Ich wollte ihr Gesicht sehen, hören wie sie „Realy?“ fragt. Aber ich hätte ihr genauso gut sagen können, dass ich die Nummer von einem Schüler aus ihrer Musikschule habe. Sie lächelt nur und sagt sowas wie: „That’s nice.“
Mir scheint, in Lettland gibt es keine Stars, keine riesigen Sonnen, die aus unserer Entfernung wie kleine Lichtpunkte aussehen, unerreichbar und unwirklich. Und ich finde es super!
Wir sind erst seit gut zwei Monaten in Lettland und kommen zudem kaum aus unserer von der Außenwelt abgeschnittenen Schule auf dem Land raus, aber wir haben schon Raimond Ozols gesehen (der echt berühmt ist, auch wenn ich seine Musik nicht mag) und die Latvian Voices, die man scheinbar auf jedem dritten YouTube-Video von irgendeiner lettischen Veranstaltung sieht. Ach so, und dann wäre da noch die Opernsängerin, deren Söhne auf unsere Schule gehen und der ich schon einmal zuhören durfte und die morgen wieder wegen der jungen norwegischen Gäste kommt. Dann singt sie in der winzigen Sporthalle, deren Akustik echt zu wünschen übrig lässt. Letztes Mal wurde sie von einer Gitarristin begleiten, die wir auch in einem YouTube-Video gefunden haben, ohne sie zu suchen.
Ich habe mich immer gefragt, warum Leute berühmt sein wollen. Klar, weil sie Anerkennung wollen, das will schließlich jeder, aber trotz all der Nachteile. Bloß hier scheint man nicht total abzuheben, wenn man berühmt ist. Sicher gibt es da Ausnahmen, aber bisher hat sich diese Behauptung bewiesen.
Vielleicht liegt es daran: Die Künstler sind zwar total bekannt, aber nur in Lettland. Bloß kennt sie hier eben jeder. Und jeder zehnte hat wohl ihre private Handynummer, wenn nicht jeder fünfte ;)

https://www.youtube.com/watch?v=L7CL8anA1hQ